Alles ein Traum

Ab und zu fahre ich mit dem Motorrad durch die westlichen Frankfurter Vororte, in und um Sossenheim habe ich die ersten dreißig Jahre meines Lebens – damit auch meine Kindheit und Jugend – verbracht. Das sind kleine Nostalgie-Runden und ich lasse dabei gerne Ereignisse dieser Zeit an diesen Orten Revue passieren. Natürlich sehe ich auch gerne, wie sich mein damaliger Lebensraum inzwischen verändert hat und sich heute weiter verändert. Ich habe mich ja auch verändert…

Heute bin ich wieder einmal durch meine alte Wohn-Siedlung gefahren, eine typische Siedlung des Sozialen Wohnungsbaus vom Anfang der Sechzigerjahre. Da passierte es wieder einmal, dass mir ein im ersten Moment sehr seltsamer Gedanke kam:

Was, wenn alles seit dieser früheren Zeit ein langer, lebhafter, detailreicher und intensiver Traum war?

Ich wache auf, stehe auf, ziehe den Rolladen hoch – es ist kurz vor halb 8 Uhr morgens, Samstag. Ich bin 16 oder 17 Jahre jung. Ich schaue kurz in die Küche, meine Mutter bereitet den Frühstückstisch vor. »Morsche!« »Morsche, mein Schatz!«

Mein Vater verlässt das Bad. »Morsche!« »Morsche« antworte ich. »Wie sieht’s aus? Fahr’n wir nachher mal rüber zu Tante Hilde und Onkel Heinz? Hast du Lust?« »Joahh…« »Gehst du vorher mit Mutti einkaufen, ich muss noch was am Auto machen…« »Mach‘ ich!« Mutti: »Was wollt ihr heute Mittag essen? Wir machen nur was Kleines, denkt dran, heute Abend sind wir beim Onkel Fritz!«

Nach dem Frühstück gehe ich mit meiner Mutter einkaufen, später fahre ich mit meinem Vater zu meiner Tante Hilde und Onkel Heinz, dem älteren Bruder meines Vaters. Ein Samstag-vormittäglicher Kurzbesuch, wie wir es öfters bei einigen Verwandten machen.

Später, am frühen Nachmittag werde ich noch mit meinem Moped zu einem Freund in die andere Siedlung… …

Nein, kein Traum.

Die Realität ist hier und jetzt. Dieser fiktive Samstagmorgen entspringt der Erinnerung. So hat es sich oft zugetragen, das war ein Teil meiner Jugend, ich erinnere mich daran in allen Farben und Facetten, mit Ton, mit Glanz und Sonnenschein. Eine doch sehr weitgehend glückliche Jugend in einer wunderbaren Familie in der späten Mitte der Siebzigerjahre.

Ich mag diese Erinnerungen, natürlich und vor allem an die Menschen, meine Familie und Verwandten in dieser Zeit meiner Jugend – die es heute nicht mehr gibt.

Ich mag aber auch die Distanz der zahlreichen Jahre, die seitdem ins Land und in mein Leben gegangen sind. Ich lebe längst nicht mehr in Sossenheim, ziemlich genau die Hälfte meines Lebens lebe ich dort nicht mehr – und das ist schön so. Ich würde heute auch dort nicht mehr leben wollen.

Ich bin sicher, das muss so sein.

Aber ich würde es spannend finden, mit einer kleinen Zeitmaschine einmal nur für einen Tag zurückreisen zu können. Zum Beispiel zu diesem Samstag, wie ich ihn eben beschrieben habe…


Kommentare

2 Antworten zu „Alles ein Traum“

  1. Ich schreibe unter dem Tag #Sonnenhof auch gern über meine Kinderheit. Es gibt so viele schöne Erinnerungen. Das gehört zum Leben wohl einfach dazu. Jedenfalls dann, wenn man an diese Zeit nur gute Erinnerungen hat. Unseren Eltern müssen wir dafür ewig dankbar sein, denn wir wissen, welche schlimmen Dinge anderen in dem Alter widerfahren sind.

    1. Habe mich gerade am Wochenende mit einer (deutlich jüngeren) Arbeitskollegin darüber unterhalten. Wir haben festgestellt, dass wir beide wirklich eine glückliche Kindheit und Jugend hatten und uns nicht beklagen können – und auch gar nicht wollen. Das wäre überhaupt nicht angemessen.
      Ein Riesenstrauß Erinnerungen, die glücklicherweise nicht verblassen.