Der Nichtwähler – das kaum verstandene Wesen

Ich bin ja der Frankfurter Neuen Presse dankbar, dass sie in ihrer Ausgabe vom heutigen 23. September 2021 im Artikel auf Seite 4 »Wie Nichtwähler die Abstimmung beeinflussen« mindestens eine totale Fehlinterpretation des Umstandes, dass manche Menschen bei der Bundestagswahl 2021 ihre Wählerstimmen nicht abgeben, so klar und schön formuliert. Dort heißt es:

Da nur die gültigen Stimmen gezählt werden, wird durch jeden Nichtwähler das Gewicht einer abgegebenen Stimme größer.

Nichtwählen begünstigt also alle anderen Parteien, die man nicht gewählt hat. Denn während die eigene Partei eine mögliche Wählerstimme verliert, werden alle anderen Stimmen wertvoller.

Das mag auf den Teil der Nichtwähler zutreffen, der eine »eigene« Partei hat, die er aber nicht wählt, aus welchen Gründen auch immer. Das ist der Anteil der Nichtwähler, die eine Partei nicht wählen. Das Argument unterschlägt aber ignorant diejenigen Nichtwähler, die keine Partei wählen.

Das ist keineswegs Wortklauberei, sondern ein wesentlicher Unterschied. Denn das Argument des ersten Falls beeinhaltet die Unterstellung, dass jeder Wähler »eine Partei hat«, die er jetzt aber nicht wählen will, warum auch immer. Er wählt also eine Partei nicht.

Die Bürger allerdings, die (momentan oder beständig) »keine Partei haben«, wählen eben keine Partei. In genau diesem Fall verschiebt sich keinerlei Stimmengewichtung zugunsten anderer Parteien, da keiner Partei eine Stimme entgeht, die man ihr irgendwie zugedacht wähnte.

Von dieser Warte aus entfällt übrigens auch jede Erwägung bezüglich »kleinerer Übel«, für die man sich angeblich entscheiden könne. Hier offenbart sich allerdings regelmäßig die Kompetenzanmaßung des Nichtwählerkritikers, verbindlich feststellen zu können, welche Partei ein kleineres Übel sei. Dabei ist es lediglich die rein persönliche, völlig subjektive Parteipräferenz, die das festlegt.

Abgesehen von der ziemlich unverschämten persönlichen Unterstellung des Kritikers, zu wissen zu glauben, welche Partei der nichtwählende Andere (natürlich, hehe!) wählen würde, wenn er denn wählte…


Kommentare

2 Antworten zu „Der Nichtwähler – das kaum verstandene Wesen“

  1. Ich bin dir dankbar, dass du mindestens eine totale Fehlinterpretation des Umstands, dass Nichtwählerkritiker vom „kleineren Übel“ sprechen, so klar und schön formulierst:

    „Hier offenbart sich allerdings regelmäßig die Kompetenzanmaßung des Nichtwählerkritikers, verbindlich feststellen zu können, welche Partei ein kleineres Übel sei. Dabei ist es lediglich die rein persönliche, völlig subjektive Parteipräferenz, die das festlegt.“

    Natürlich, was denn sonst? Dass ich und viele andere Nichtwählerkritiker meinen, man sollte sich halt für das „kleinere Übel“ entscheiden, heißt gerade NICHT, dass damit irgend ein für alle verbindliches „kleineres Übel“ gemeint ist. Sondern es meint das „jeweilige“ kleinere Übel nach rein persönlicher, völlig subjektiver Parteipräferenz.

    Ich gehe davon aus, dass auch für dich DIE GRÜNEN gegenüber der AFD ein „kleineres Übel“ sind. Vielleicht ja sogar gegenüber der CDU/CSU? Für jemand anderen mag die FDP im Vergleich zur CDU das kleinere Übel sein oder die LINKE im Vergleich zur SPD. Und meist gibts ja sogar eine Partei, die verglichen mit allen anderen das „kleinste Übel“ darstellt.

    Davon abgesehen gibts noch die chancenlosen Kleinstparteien, die sich für manche Wähler immerhin anbieten, um ein Statement über die Wichtigkeit eigener Forderungen abzugeben (nicht als Aufruf zu verstehen!).

    Wünsche uns allen, dass die Wahl nicht in einem Fiasko endet.

    1. Du hast schon recht, jeder hat sein persönliches „kleineres Übel“. Und meint, dass ich dieses doch wählen sollte, weil ICH doch sicher auch… ich meine, das muss ICH doch erkennen, für mich ist diese Partei doch sicher auch… … gegenüber dieser.

      Nein. Ist sie nicht.

      Oder auch: jeder hat sein Präferenz, von der aus er Nichtwähler und kleinere oder größere Übel betrachtet. Der SPD-nahe sieht das kleinere Übel in der SPD oder den Grünen, der CDU-nahe sieht es bei der CDU oder der FDP.

      Ersterem sage ich dann: Ok, du hast mich überzeugt, doch wählen zu gehen. Eine Stimme mehr für die CDU.

      Letzterem: Ok, du hast mich überzeugt, doch wählen zu gehen. Eine Stimme mehr für die SPD.

      Das Entsetzen ist groß. Ich habe das tatsächlich mal in einer Diskussion so formuliert. War witzig, die Reaktionen zu sehen.

      Ich habe, wenn ich gewählt habe (und das habe ich seit 1978 – Landtagswahl in Hessen – öfter als ich nicht gewählt habe) nie nach „Grad des Übels“ abgewogen, sondern danach, was Parteien als Regierung zu tun gedachten und inwieweit sich das mit den mir persönlich wichtigen und von mir für allgemein wichtig gehaltenen Aufgaben deckte.

      Ich kann es ja hier offenbaren: Ich habe in meiner Wählerkarriere bei Land- und Bundestagswahlen schon alle der sogenannten „etablierten“ Parteien gewählt, die du oben nennst – natürlich nicht die AFD.

      Und: ICH selbst – aus meinen Motiven und Zielen heraus – würde bei dieser Wahl die Grünen nicht wählen.

      Allerdings stimme ich der Auffassung zu, dass deren Programmatik jetzt und grundsätzlich am ehesten noch notwendigen Schritten zur Eindämmung der Klimakrise nahekommen. Ganz so, wie es Luisa Neubauer formuliert hat auf Basis der DIW-Studie.

      Weil ich DAS viel höher gewichte als diverse Dinge, die eher meine persönliche gesellschaftspolitische Agenda sind und gegen die die Grünen zur Zeit stehen, habe ich mich zu diesem symbolischen Schritt entschlossen, meine Stimmen quasi zu verschenken an den unbekannten jungen Menschen der Fridays-for-Future-Bewegung, der Hoffnung auf die Grünen setzt, aber noch nicht wählen darf. In diesem Sinne kann es gar nicht falsch sein, die Grünen so stark wie möglich zu machen.

      (Und weil ich weiß, dass ich, wäre ich 16 oder 17, 18,19…, bei diesen Märschen und Kundgebungen dabei wäre, unterstützt von meinen Eltern.)