Kognitive Irritation

Ich will nicht von kognitiver Verzerrung oder Wahrnehmungsverzerrung sprechen. Das sind Termini aus einem wissenschaftlichen Kontext. Ich will die Brötchen etwas kleiner backen und von einer gewissen persönlichen mentalen Irritation sprechen, über die ich seit einigen Tagen nachdenke. Es ist gewissermaßen irritierend und kurios.

Der Hintergrund

Ich schaue gerne Filme. Kinofilme. Aus Tradition eher weniger im Kino als lieber zu Hause. Diese Vorliebe führte in den mittleren Achtzigerjahren bis in die Neunziger hinein zum regen Einsatz von Videorecordern und der Ansammlung von VHS-Kassetten im Medienregal. Ich nahm viel auf, überspielte viele Filme und kaufte, als sie billig wurden, auch zahlreiche Film-Kassetten. Ich wa eifriger Fernseher wie auch häufiger Gast in mehreren Videotheken.

Das führte in der Hochblüte zu einer Sammlung von knapp 400 Filmen. Darauf war ich durchaus stolz. Fast alle Hitchcocks, Cronenbergs, Kubricks, Leones u.a.m. Fast alle mit Mel Gibson, Clint Eastwood, Schwarzenegger u.v.a.m.

Ein deutliche Neigung zur Vollständigkeit solcher Reihen war mir nicht fremd.

Natürlich stand dahinter der … ja, wie eigentlich zu nennende? … Wunsch, alle meine Lieblingsfilme, alle Filme, die ich persönlich für wichtig halte, jederzeit in der eigenen Mediensammlung zur Verfügung zu haben.

Alte Medien, neuere Medien

Es folgte die Ära der DVD. Für mich nahm die Bedeutung der Videotheken ab, als es immer mehr zur Regel wurde, dass aktuelle Filme nach kürzer werdenden Fristen per DVD, später Blu-ray, günstig zu kaufen waren.

Im Grunde baute ich meine Filmsammlung über einige Jahre hinweg neu auf. Alte Aufnahmen aus dem Fernsehen verschwanden zugunsten neuer DVD-Silberscheiben. Die leidige PAL-Ära wurde abgelöst durch die HD-ready und anschließend die Full-HD-Ära.

DVD- und Blu-ray-Sammlung

Teilweise widerstand ich nun allerdings meiner Neigung, alles und jedes, was mir lieb war, möglichst umfassend in meiner Sammlung abzubilden. Es gab also nicht mehr z.B. beinahe alle Hitchcocks. Die neue Sammlung wuchs in ihrer besten Zeit auf rund 240 Filme an, hübsch anzusehen war das schon – und es fühlte sich auch gut an.

Aber es kam die Zeit, wo die Sammlung kaum noch wuchs. Bis hin zum Stillstand. Ich hatte die Welt des Streaming entdeckt. Ich begann, Filme praktisch nur noch per Streaming zu schauen.

Aber es wurde weniger, mein Filmkomsum wurde geringer und geringer. Und mein Bedarf, für mich bedeutsames »Altmaterial« nachzukaufen, war inzwischen gestillt.

Aufräumen und abspecken

Mit der Zeit kam ein Wandel meiner materiellen Werte. Dinge, Zeug zu besitzen und zu sammeln verlor nach und nach seinen Reiz. Warum Zeug sammeln? Wozu?

Ich hatte inzwischen meine Bibliothek aus zuletzt ca. 500 Büchern schrumpfen gesehen auf einen heutigen Restbestand von gerade 20 Exemplaren. Dieser »Befreiungsprozess« von beharrlichen Staubfängern hat rund 4 Jahre gedauert und mir zum Ende hin immer mehr Spaß gemacht.

Dann waren die Filme dran! Kurz: Übrig blieben ein Bestand von zur Zeit rund 60 Titeln.

Ich nähere mich dem »selbst-beobachteten« Phänomen an, das den Kern dieses Artikels bildet. Der geneigte Leser verzeihe mir den ausgedehnten Vorbericht.

Rund 60 Filme. Das ist mein persönlicher Grundbestand, an dem nicht zu rütteln ist. Das sind »meine« Filme! Sozusagen die Essenz meiner Freude am Filmschauen.

Wirklich?

Was bedeutet das?

Auf der einen Seite gibt es diese ganz persönliche Einschätzung, dass diese Filme meine Lieblingsfilme sind, dass sie mir etwas bedeuten – oder bedeutet haben, vielleicht in bestimmten Phasen meines Lebens. Ich möchte sie nicht missen.

Andererseits — eine ganze Reihe dieser Filme habe ich seit vielen Jahren gar nicht mehr gesehen. Einige dieser DVDs/BDs habe ich überhaupt noch nie in den Player eingelegt! Diese Filme kenne ich aus meiner Zeit vor der DVD/BD-Sammlung.

Sehe ich da ein gewisses Dilemma?

Ein Dilemma zwischen meiner Neigung zu bestimmten Filmen und meinem tatsächlichen Filmkomsum nämlich. Meine Selbstwahrnehmung in Bezug auf besonders geschätzte Filme deckt sich gar nicht mit meinem realen Verhalten als Filmschauer.

Liegt die Auflösung des Dilemmas also hier:

Sich klar werden…

Reflektiert die persönlich bedeutsame Sammlung der (rund 60) Filme in Wirklichkeit die Erinnerung an das mit diesen Filmen Erlebte und Verbundene?

Ist die Nützlichkeit der Sammlung – jederzeit einen der Lieblingsfilme sehen zu können – im Grunde nur vorgeschoben, denn ich tue das ja gar nicht! Ich habe eigentlich auch kaum die Zeit dazu, es gibt ja neue Filme zu schauen, TV-Serien… und all das kostet so viel Zeit, die ich eigentlich gar nicht dafür einsetzen will.

Nahezu alle diese Filme kann ich inzwischen per Streaming sehen, in manchen Fällen gegen geringe »Leihgebühr«. Da ich das, wie gesagt, aber sowieso kaum tue…

Um die Erinnerung an die mit diesen Filmen irgendwie verbundenen und erlebten Lebensphasen zu bewahren – Spaß, Spannung und andere Erlebnisse, die sie seinerzeit zu Lieblingsfilmen machten, brauche ich diese Filme nicht in Pappschachteln im Schrank zu archivieren.

Erinnerungen müssen sich für mich nicht mehr in Sammlungen von Gegenständen in meiner Wohnung manifestieren. Ist das nicht zumindest ein Teil der Essenz der in den letzten Jahren häufiger diskutierten Neigung zu einem »Minimalismus« in der Lebensorganisation, der durchaus in Mode gekommen ist?

Ich werde mir die verbliebene Sammlung von rund 60 Filmen also in der nächsten Zeit vornehmen…