Fundstück, in der Rückschau

Beim Stöbern in der Timeline der Internet Archive – waybackmachine zwecks zeitlicher Einordnung meiner Blogger-Aktivitäten zum 20-Jahre-Jubiläum bin ich auf einen Blogartikel ganz vom Beginn meiner Bloggerzeit gestoßen.

Es ging damals, vor zwanzig Jahren, um Bücher und das Kaufen von Büchern. Auch ein wenig um Amazon. Ich fand die neuerliche Lektüre dessen, was ich damals dachte und tat, ziemlich erhellend gerade in Bezug auf den Perspektivwechsel, den ich seitdem vollzogen habe – und deswegen auch ein bisschen amüsant.

Deswegen hier also dieser fast zwanzig Jahre alte Blogartikel, in vollem Umfang, unverändert. Lediglich die alten Verlinkungen habe ich entfernt.

Mit nachfolgendem Kommentar.


07.04.2004: »Niemals ein Buch bestellen…«

Oder: wie gelangt man von Jeffrey Zeldman zu Michael Moore?

Bücher kauft man im Buchladen. Man geht hinein in den Buchladen seiner Wahl, stöbert nach dem Titel, den man gerade wünscht, findet ihn schließlich, nachdem man mindestens drei andere interessante Bücher besehen und »begriffen« hat, und kauft ihn. Alleine der Moment des Bezahlens an der Kasse des Buchhändlers – der in schon klassischer Weise seine Kasse nicht so richtig gut bedienen kann, er ist Buchfachmann, kein Kassierer – und der Moment des Einsteckens des neuen Buches in die Tasche sind wahre kulturelle Momente, durch deren Erleben ein ganzer Tag gerettet sein kann. Die anderen drei Bücher wandern womöglich auf die innere Liste der Bücher, die demnächst »dran« sind. Im Falle, dass das angestrebte Buch nicht verfügbar ist, findet man in aller Regel ein anderes, welches sogleich auf besagter inneren Liste an die vordere Position rückt – und der Tag ist gerettet….

Je dünner, und dümmer, die Auswahl der wenigen verbliebenen Buchhandlungen heutigen Tags ist, desto eher ist man genötigt, etwas zu tun, was ich zumindest bis heute niemals wirklich freiwillig getan habe: ein Buch zu bestellen!

Man mag mich für verschroben halten (viele taten das zu meinen Studienzeiten durchaus), aber mir war das Bestellen von Büchern immer zuwider. Auch wenn sie immer zuverlässig am nächsten Tag abholbar waren, ich habe es immer gehasst, mit leeren Händen aus dem Buchladen zu gehen mit dem Wissen, dass am nächsten Tag…..

Heute gibt es Amazon, und der Vorgang des Buchkaufes ist zu einem seelenlosen Ingangsetzen einer Logistik-Maschinerie geworden, an dessen Ende eine erdgeschichtlich vergleichslos störrische Pappverpackung auf dem heimischen Tisch liegt, die aggressiv widerwillig das begehrte Buch freigibt. Offenbar ist der Teil des logistischen Prozesses, der aus physikalischem Transport besteht, so gefährlich wie ein Atomkrieg…

O.K. ich habe tatsächlich schon mehrfach bei Amazon bestellt, es funktioniert problemlos und schnell – aber gerne gemacht habe ich es nicht. Es fehlt einfach etwas. Und so ist bei mir heute der Kauf eines Buches meist ein aufwendigerer Prozess des Abklapperns nahezu aller verbliebenen Buchhandlungen meiner Stadt – die immerhin Frankfurt heißt, aber noch nie in ihrer verlagsreichen Geschichte ein angemessenes Angebot an guten Buchhandlungen ihr eigen nennen konnte – ein Prozess, der genügend Zeit mit sich bringt, mich zu ärgern über den absonderlichen gedruckten Mist, den Buchhändler heutzutage verkaufen müssen, um überleben zu können. Bekommen sie eigentlich Schmerzensgeld dafür?

Nun, ich könnte ja bestellen und am nächsten Tag… oder Amazon… ja, das könnte ich, aber dann würde nicht das passieren, was mir schon oft passiert ist: dass ich beim vergeblichen Suchen des Wunschtitels in der geeigneten Abteilung andere Titel ins Auge fasse (siehe oben..), durch andere Fachabteilungen streife und – ein Buch entdecke, dass mich eigentlich schon seit langer Zeit interessiert hat. Vielleicht hat es das gar nicht wirklich, aber es hätte können. Oder müssen. Und so nehme ich es in die Hand, betrachte Front und Rücken, blättere, lese ein Stück, gehe zur Kasse – und der Tag ist gerettet.

Und so kam es gestern, dass ich eben nicht Jeffrey Zeldmans Designing With Web Standards glücklich nach Hause tragen konnte, sondern Michael Moores Stupid White Men. Das Büchlein ist offenbar seit kurzem als preiswertes deutsches Taschenbuch erhältlich, ja, und es befand sich schon längere Zeit an irgendeiner nicht näher erinnerbaren Position auf meiner inneren Liste. Schon bis heute habe ich knapp das erste Drittel gelesen, verschlungen, wiewohl ich wahrlich kein Schnellleser bin, und mich dabei köstlich amüsiert. Es liest sich, als ob Moore irgendwie sogar auf des deutschen Lesers Stirn eine Taste gefunden hätte, die bei jedem Druck genau die eine Frage hervorspringen ließe: ‚Sind die Amis eigentlich total bescheuert?‘ Und er drückt diese Taste ständig…

Das Buch ist, wie uns der Verlag eingangs informiert, vor dem »9/11« geschrieben, aber selbst diese gewisse zeitliche Distanz zu heute macht diesen absonderlichen amerikanischen Präsidenten kein Stück erträglicher. Ganz im Gegenteil. Aber etwas anderes passiert zumindest mir, und das macht dieses Buch noch etwas wertvoller: eine weitere Taste auf meiner Stirn erscheint, wird beständig gedrückt und es blitzt die Frage auf: ‚Sind wir hier in Deutschland nicht eigentlich total bescheuert?‘ Bei alldem, was wir uns hier zuletzt unter beharrlicher Berufung auf genau diese gerade stattfindenden, angeblich notwendigen, so genannten, »Reformen« bieten lassen müssen? Von angeblich berufenen Leuten, denen es ökonomisch blendend wie selten zuvor geht? Denn genau das thematisiert Moore, aus amerikanischer Sicht auf amerikanische Verhältnisse, in treffender und bissiger Weise.

Aber das ist ein anderes Thema… und wahrscheinlich suche ich demnächst ein Buch zu genau diesem Thema – und finde stattdessen das Buch von Zeldman… und werde weiterhin nur im absoluten Notfalle ein Buch bestellen!


Heute also…

Heute erkenne ich mühelos meinen bisweilen etwas befremdlichen Schreibstil wieder, der sich wohl kaum verändert hat. Allerdings geändert hat sich meine Einstellung zum Buchkauf, ja, fast komplett gewendet hat sie sich in den vergangenen zwanzig Jahren.

Um 2004 herum umfasste meine Büchersammlung noch rund 600 Titel, inzwischen sind es bloß noch etwa 40 Exemplare. Ich kaufe Bücher nach Möglichkeit nur noch in Form von eBooks, und ich sammle keine Bücher mehr. Eine einstmals bestehende bibliophile Ader in mir habe ich vor Jahren abgeklemmt. Bücher alleine als ‚Kulturgüter‘ interessieren mich nicht mehr, lediglich der Inhalt ist mir wichtig. Ich benötige auch keine wandfüllenden Bücherregale (aka elende Staubfänger) mehr und ich muss meine bürgerliche Gebildetheit und Intellektualität niemandem beweisen.

Vom Buchhandel ist heute noch weniger übrig als vor zwanzig Jahren. Allerdings hat Amazon längst nicht alles platt gemacht, es gibt nämlich beständige Alternativen – und genau die nutze ich:

Auch wer wie ich zum konsequenten eBook-Leser geworden ist, kann beim lokalen Buchhändler einkaufen. Der ist nämlich meist an die Libri-Onlineplattform angeschlossen und bietet somit fast das gesamte Buchprogramm des Handels zum Kauf und sofortigen Download an. Für mich als beharrlichem Buch-Nichtbesteller ist das geradezu ein paradiesischer Zustand:

Ich suche ein Buch im Webshop meines lokalen Buchhändlers, finde es, kaufe es, lade es herunter und beginne zu lesen.

Wobei, um genau zu sein, der Kauf in Wahrheit den Erwerb einer zeitlich unbegrenzten Leselizenz darstellt.

Aber das, und was damit an Problematik noch alles zusammenhängt, ist ein anderes Thema…


Kommentare

2 Antworten zu „Fundstück, in der Rückschau“

  1. Es ist schon interessant, wie sich die Gewohnheiten (ob das wirklich viel mit dem Internet zu tun hat?) sich über die Jahrzehnte verändert haben. Gerade, wenn man Einstellungen von früher noch einmal frei Haus geliefert bekommt, fällt einem das auch persönlich auf. Ich lese zwar viel aber es sind selten Bücher. eBooks sind nicht so mein Ding, ich bevorzuge die gebundene Version. An Hörbücher kann ich mich auch nicht so richtig gewöhnen. Darauf kann ich mich nicht so konzentrieren, dass ich wirklich dranbleibe. Meine Schwester handhabt das völlig anders. Sie schafft es, ganze Bücher in ein, zwei Tagen durchzuhören.

    In meinem Fall merke ich, wie sich die Art meines Musikkonsums verändert hat. Ich finde es einerseits fantastisch einfach die vorhandenen Tools es uns Nutzern machen. Seit Jahren habe ich mir weder Schallplatte noch CD’s gekauft. Alles wird gestreamt. Ich habe immer Keller (immer noch) ungefähr 600 LP’s und bestimmt fast noch einmal so viele CD’s. Davon höre ich nichts mehr. Die mir wichtigen Titel sind in Playlists organisiert. Die Nachteile, die ich durchaus sehe, überwiegen nicht die Vorteile der aktuellen Möglichkeiten. Wie es „moralisch“ zu bewerten ist, ist noch einmal eine andere Sache. Für die Künstler hat die Streamingwelt viel zum Negativen verändert, denke ich.

  2. Boris (Autor)

    Ich höre meine rund 600 CDs natürlich noch, allerdings längst per Stream von Festplatte. Playlisten dagegen nutze ich kaum. Ich bin immer noch Album-orientiert.

    Ich schätze das gesprochene Wort, allerdings nur, wenn ich dem Kommunikationspartner gegenüber sitze oder stehe. Podcasts und Hörbücher funktionieren für mich einfach nicht.

    Meinen Verzicht auf gedruckte Bücher sehe ich als persönlichen Fortschritt über zwanzig Jahre. Verloren ging mir dabei nichts, außer sehr viel Papier und Pappdeckel und damit Staub und Muff. Gewonnen habe ich dafür viel, vor allem: Platz und unverstellte Wände.

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