Große Dinge, ganz klein

Vom Universum und von Multiversen

Oder: Wenn große Dinge ganz klein sind, je nach Standort und Perspektive. Eine kleine kosmologische Geschichte

Tarantula Nebula, JWT (James Webb Telescope)
Tarantula Nebula, aufgenommen vom NASA James Webb Space Telescope

Ondin hat heute an seinem ganz persönlichen Atommodell weitergebaut. Ondin ist ein, wie er selbst von sich sagt, mittelmäßig begabter Hobby-Kosmologe (ganz wie der Erzähler dieser kurzen Geschichte), und er hat in seinem Zimmer ein großes Atommodell aus diversen farbigen Kugeln und Bällen gebaut. Alle sind an feinen Fäden aufgehängt und scheinen in verschiedenen Umlaufbahnen eine zentrale Kugel zu umkreisen. Diese Kugel stellt den Atomkern im Atommodell der Physik dar, die er kennt und deren Modelle er zu verstehen versucht. Gerade wieder haben zwei bedeutende Physiker den höchsten Forschungspreis erhalten für ihren Nachweis noch kleinerer Elementarteilchen, deren Entstehung und Wechselwirkungen in den nächsten Jahren erforscht werden müssen.

Ondin hat länger überlegen müssen, wo er derart kleine Kügelchen in bestimmten Farben hernehmen soll, um diese neuen Teilchen größenkonform in seinem Modell unterbringen zu können. Ja doch, seine Mutter bestreut um die Weihnachtszeit Plätzchen und Kuchen mit ganz kleinen Zuckerkügelchen, die es in vielen verschiedenen Farben gibt. Ein paar davon sollten genügen, um einige der neuen Elementarteilchen in seinem Atommodel aufhängen zu können.

Er hat auch schon eine ungefähre Idee, wo er sie in seinem Modell platzieren muss, denn es scheint den Physikern auch modellhaft klar zu sein, aufgrund welcher Wechselwirkungen sie aus anderen Teilchen hervorgebracht werden.

Die winzigen Zuckerkügelchen sind wirklich sehr klein, Ondin hat recht Mühe, sie an feinen Garnfäden festzukleben und an den passenden Orten an seiner Zimmerdecke anzubringen. Er hat sich entschieden, alle angebotenen Farben zu verwenden, denn die Forscher vermuten, dass es sich bei dem sensationell nachgewiesenen neuen Teilchen um einen ganzen Teilchenzoo handeln dürfte.

Der Abend ist spät geworden, Zeit für Ondin, ins Bett zu gehen. Licht des Nachthimmels dringt durch den Vorhang seines Fensters. Er lässt seinen Blick über sein Atommodell im Halbdunkel schweifen und folgt einem letzten Gedanken, kurz bevor er seine Augen schließt. Es ist ein atemberaubender Gedanke.

Was, wenn er ein phänomenales Mikroskop hätte. Eines, mit dem er ganz nah an eines dieser neuen Elementarteilchen heranfahren könnte. »Universonen« haben die Physiker sie genannt. Alpha-, Beta-, Gamma-, Delta- undsoweiter-Universonen. In schläfrigen Gedanken schon fährt so nah an eines dieser Universonen heran, dass er seine äußere Struktur klar erkennen kann. Noch weiter reicht sein Mikroskop, ja, er kann sogar die innere Beschaffenheit erkennen, kann quasi hineinschauen. Die Frage stellen, aus was es besteht, was es im Inneren zusammenhält. Welche noch kleineren Strukturen es enthalten mag. Sein Mikroskop enthüllt ihm immer feinere Strukturen, ein unfassbar komplexes Netz aus Strukturen, die ihrerseits immer noch mehr noch viel kleinere Gebilde enthalten. Er dringt weiter vor, in die Verästelungen noch feiner aufgelöster Strukturen aus, ja, aus was? Er erkennt runde und scheibenförmige Gebilde, bestehend aus Myriaden winziger leuchtender Elemente, und nun breiten sich Spiralarme vor ihm aus.

Dort, am Rande eines solchen Spiralarmes ein kleiner weißlich-gelber Körper, ein Leuchttpunkt, um den andere, viel kleinere und kaum leuchtende kugelförmige Elemente zu kreisen scheinen. Eines dieser Elemente davon erscheint, ja, es ist eine Kugel, seltsam kräftig blau und weiß. Ondins Mikroskop lässt ihn noch etwas näher heranfahren, noch näher…


Ich stehe vom Schreibtisch auf und gehe zum Fenster. Blicke nach oben in den sternklaren Nachthimmel. Myriaden von Sternen und Galaxien.

Ja, ich lächle und ich winke Ondin zu…

Ondin ist eingeschlafen.

Träume schön!

Diese ganz kleine Geschichte vom Universum und von Universen (und Universonen) kam mir in den Sinn, nachdem ich jüngst mehrere Artikel im Blog »Die großen Fragen«, in der Rubrik »Kosmologie« gelesen habe. Vielen Dank nach dort für den Anstoß dazu!

Im Grunde reicht die Geschichte aber weiter zurück, denn ich beschäftige mich schon seit sehr vielen Jahren immer mal wieder mit kosmologischen Fragen. Wahrscheinlich entspringt sie irgendwo in meinem inneren Literaturraum, möglicherweise nah bei Stanisław Lem und Julio Cortázar.